Home Politik Der Fluch von Volksentscheiden
Politik - 19.12.2018

Der Fluch von Volksentscheiden

Sogar Schlechtes bietet gute Lehren. Das gilt auch für den wahrscheinlichen Austritt Großbritanniens aus der EU (Brexit). Er wird allen Europäern schaden. Nicht zuletzt und vor allem den Briten. Das scheint inzwischen auch ein Großteil derer einzusehen, die seinerzeit mit nein, also gegen Europa stimmten. Sie folgten dabei, mehrheitlich ahnungslos, einer Stimmung von Stimmungsmachern.

Daraus sollten auch wir lernen. Vor allem jene, die immer wieder „mehr Volksentscheide“ fordern.

Nicht nur Volksentscheide über Straßenverläufe oder Brücken, sondern über staatliche Schicksalsfragen mit weitreichenden zwischenstaatlichen Folgen.

Das Hick-Hack für und gegen den Brexit lehrt: Volksentscheide, wie 2016 über den Brexit, erschweren die Regierbarkeit von Staaten dramatisch.

Die Entwicklung in Großbritannien beweist dies einmal mehr. Politik und Gesellschaft werden so sehr aufgestachelt und gespalten, dass die für jedes Gemeinwesen überlebensnotwendigen Kompromisse kaum möglich, weil den aufgewühlten Massen nicht mehr vermittelbar sind. Nicht nur beim Referendum über den Brexit wusste die Mehrheit der Wähler (wie bei den meisten Abstimmungen dieser Art eine Minderheit der Wahlberechtigten) gar nicht genau, worum es eigentlich ging.

Diese Lehre sollten nicht zuletzt die immer zahlreicher werdenden deutschen Politiker aller Parteien bedenken, die in Volksentscheiden das Allheilmittel politikmüder Demokratien wähnen.

Eigentlich ist diese Erkenntnis alles andere als neu. Es hätte gar nicht des Brexit-Debakels bedurft.

Man muss nur wissen, warum das Parlament in England (!) „erfunden“ wurde. Nach vielen und langen Bürgerkriegen erkannten die irgendwann dann doch müden Kämpfer: Es ist allen bekömmlicher, mit Worten aufeinander einzuschlagen als mit Waffen. Es müsse „etwas anderes“ als fast ständig möglichen und oft tatsächlichen Bürgerkrieg geben.

Gedacht, gemacht. Statt mit der Waffe schlug man mit dem Wort aufeinander ein. Ort der in jeder Gesellschaft überall und immer vorhandenen Auseinandersetzungen wurde das „Parlament“. Da nämlich, spricht man (italienisch: parlare, französisch: parler) miteinander. Durch den Brexit geschah es genau umgekehrt. Die Geister, die die britischen Volksbefrager riefen, wird nun ganz Europa nicht mehr los.

  • Ansage von Ex-premier Blair

    »Höchste Zeit für ein zweites Brexit-Referendum

    „Die britische Regierung hat die Initiative verloren. Jetzt muss das Volk entscheiden“, sagt Tony Blair zum Brexit-Chaos.

Solche Geister allgemeiner Entfesselung waren den Denkern und Verfassern unseres Grundgesetzes bekannt. Deshalb verzichteten sie auf das Instrument der Volksbefragung in Sachfragen.

Sie erinnerten sich an die Weimarer Republik, in der ein Volksentscheid (1929; über den Young-Plan) die Bürgerschaft radikalisierte und dauerhaft spaltete.

Sie wussten, dass langfristige Planung und komplizierte Probleme enormes Fachwissen erfordern. Das können überall und immer nur Fachleute liefern. Allerdings müssen und sollen sie „dem Volk aufs Maul schauen“, um nicht in Richtung Wolkenkuckucksheim abzuheben.

Besser als die meisten heutigen Politiker und Bürger kannten die Verfasser unseres fabelhaften Grundgesetzes die Geschichte. Auch die Geschichte des Antiken Athens.

Der Anfang vom Ende der Athenischen Demokratie war (vor 2400 Jahren) die Festsetzung der Politik durch die fast ständig tagende Volksversammlung. Einpeitscher (Demagogen) gaben den Ton an. Es obsiegte nicht das bessere Wissen oder Argument, also das Hirn, sondern der „Bauch“, das angestachelte Gefühl. Es führte schließlich zum Untergang des Athenischen Staates und natürlich auch der Demokratie.

Seit 2400 Jahren hat sich in der Menschheitsgeschichte viel verändert, nicht aber der Mensch an sich, geschweige denn die Psychologie der Massen. Sie waren, sind und bleiben verführbar. Das Volk folgt seit jeher den Volksverführern. Heutzutage ist „Bauchiges“ durch die sozialen Medien erheblich leichter loszutreten.

Warum in die ganz frühe oder die Vor- und Nachgeschichte des Hitlerismus schweifen?

Volksentscheide in Frankreich und den Niederlanden gaben der sinnvollen und notwendigen Europäisierung Europas 2005 quasi den Todesstoß. In beiden Staaten lehnte die Bürgermehrheit in Volksentscheiden den von kaum jemandem gelesenen Entwurf einer Europäischen Verfassung ab. Seitdem stockt der Europa-Motor.

Wer hat vergessen, dass und wie sehr 2013 der Schottische Volksentscheid die Massen spaltete. Das Ergebnis nannte man dann „klar“, aber faktisch ist die Bürgerschaft in zwei etwa gleich große Lager gespalten. Gleiches gilt noch mehr für Katalonien. Seit dem Volksentscheid von 2014 sind die Gräben zwischen den Befürwortern einer katalanischen Unabhängigkeit und den Anhängern eines Verbleibs in Spanien tiefer denn je.

▶︎ Bei Volksentscheiden schlägt die Stunde der Volksverführer und Manipulatoren.

► Volksentscheide spiegeln Stimmungen wider. Und Stimmungen wechseln so schnell wie das Wetter in den Bergen.

Das gilt für Gesellschaften ebenso wie für Einzelpersonen. Mittel- oder gar langfristige Planungen werden unmöglich.

Regierbare Demokratien muss man so wenig neu erfinden wie das Rad. Ihr Modell ist schon längst erfunden. Als Mischung direkter und indirekter Volksbeteiligung. Das nennt man bekanntlich repräsentative Demokratie bzw. indirekte Demokratie.

Periodisch wählt dabei die gedachte und wegen niedriger Wahlbeteiligungen leider selten erreichte Gesamtheit des Volkes nach kurzen und durchaus heftigen, auch gefühlsgewaltigen Wahlkämpfen ihre Vertreter. Dabei beauftragt der jeweilige Teil des Volkes seine Repräsentanten. Das sind die Parteien. Jede Partei repräsentiert nur einen Teil (lateinisch: pars) des Volkes. Erst die Gesamtheit der Parteien repräsentiert die Gesamtheit der (wählenden) Bürgerschaft. Im Parlament, der Volksvertretung, werden also wieder („re“) alle Teile des Volkswillens „gegenwärtig gesetzt“ („präsentiert“), sprich: „repräsentiert“.

  • Angst vor Brexit-Chaos

    Briten sollen keinen Urlaub nach März 2019 buchen!

    Was, wenn der Brexit ohne Vertrag kommt? Die britische Regierung trifft bereits Vorkehrungen für den Ernstfall.

Ruhiger und sachkundiger als auf dem Marktplatz der Volksgefühle soll, so die Vorstellung, zwischen den diversen Teilwillen der Bürger Brücken geschlagen und das Gemeinwesen rational gesteuert werden. Natürlich klafft auch hier eine Lücke zwischen Ideal und Wirklichkeit, aber sie ist dem durch Volksentscheide programmierten Chaos durch ständiges Aufpeitschen der Gefühle allemal vorzuziehen.

Die ganz großen, wichtigen und, nachträglich besehen, segensreichen Weichenstellungen der bundesdeutschen Politik wurden ohne Volksbefragung und gegen den durch Umfragen bekannten Mehrheitswillen der Bürger durchgesetzt.

Dazu gehören die Westbindung und die Nachrüstung. Die Westbindung hatte Bundeskanzler Konrad Adenauer durchgeboxt. Sie brachte uns Freiheit, Sicherheit und Wohlstand. Die Nachrüstung hat Bundeskanzler Helmut Kohl durchgefochten. Sie hat uns Freiheit, Wiedervereinigung sowie das Ende des real existierenden Sozialismus gebracht.

Brexit und die Geschichte lehren: Je mehr Volksentscheide, desto mehr Gefühle und weniger Vernunft.

Es gibt ein Gegenbeispiel: die Schweiz. Dort haben Volksentscheide das Gemeinwesen gefestigt. Mit „Volkscharakter“ (ganz allgemein eine unsinnige Vorstellung) hat das nichts zu tun, wohl aber mit einer immer noch relativ intakten Tradition, die sich staatlichem Gemeinschaftsgefühl verpflichtet fühlt.

Wann endlich hört man bei uns auf, immer mehr Volksentscheide zu fordern? Vielleicht ist das Brexit-Debakel ein Wendepunkt? Doch auch das beweist die Menschheitsgeschichte: Lehren werden schnell vergessen.

*Prof. Dr. Michael Wolffsohn, Historiker und Publizist, Hochschullehrer des Jahres 2017, Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2018; Bücher u.a. „Friedenskanzler? Willy Brandt zwischen Krieg und Terror“; „Deutschjüdische Glückskinder“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Check Also

„Torpedo Attacke! Torpedo Attacke!“

++ Tanker-Krise im Golf von Oman ++ BILD dokumentiert den dramatischen SOS-Ruf ++ Großbrit…