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Wirtschaft - 16.11.2018

Umweltskandal in Chile

Über Chiles Küstenstadt Quintero schwebt eine Giftwolke, die Bewohner klagen über Atemprobleme, Schwindel und Erbrechen. Verursacher sind die Industriekonzerne, die das Wirtschaftswachstum des Landes vorantreiben.

Bunte Fischerboote treiben friedlich im Wasser der Bucht von Quintero und Puchuncaví an der Küste Chiles, während im Hintergrund dunkle Wolken aus Industrieschornsteinen puffen. Etwa 40.000 Menschen leben hier, die meisten von Tourismus und Fischerei.Aber die Strände sind leer, viele Fischer haben ihre Arbeit verloren.

„Die Industrie hat viel Schaden angerichtet. Die Händler wollen unsere Fische nicht mehr kaufen wegen der Belastung durch Schwermetalle“, sagt Claudio Hernández, Fischer und Gewerkschaftsführer der Fischergewerkschaft S24 in Quintero. Die Gewerkschaft entstand 2014, nachdem sich durch einen Unfall des staatlichen Mineralölunternehmen Empresa Nacional del Petróleo (ENAP) über 30.000 Liter Öl  in die See ergossen.

Die Unternehmen bestreiten jede Verantwortung

ENAP ist eines der Unternehmen, die sich seit der Industrialisierung in den 1960er Jahren in der Küstenzone angesiedelt haben und die etzt für die Luft-, Wasser und Bodenverschmutzung verantwortlich gemacht werden. Darunter befinden sich Kohlekraftwerke, Chemiebetriebe und erdölverarbeitende Anlagen –  unter ihnen der staatliche Kupferbergbaukonzern Codelco und das Erdölunternehmen Copec.

„Wir Arbeiter sind die ersten, die unter den Vergiftungen leiden“, sagt der Gewerkschafter Alejandro Ochoa.

Alejandro Ochoa arbeitet für ein Vertragsunternehmen von ENAP und ist Mitglied der Industriegewerkschaft der Bucht Quintero-Puchuncaví. „Wir Arbeiter sind die ersten, die unter den Vergiftungen leiden. Die Unternehmen übernehmen weder die Verantwortung für ihre Arbeiter noch für die Bewohner“, beschwert er sich.

Die Opferzone

Die Chilenen nennen die Region die „Zona de Sacrificio“, die „Opferzone“, weil sie ohne Rücksichtnahme auf Bevölkerung und Umwelt der Industrie überlassen wurde und somit für das Wirtschaftswachstum des Landes „geopfert“ wurde. „Die Unternehmen machen immer mehr Gewinn und die Bewohner werden immer ärmer“, empört sich Sebastián Santos, Sprecher des Gemeinderats von Quintero-Puchuncaví. „Die Umweltverschmutzung der Unternehmen zerstört den Tourismus und die Fischerei.“

Der Gemeinderat fordert deshalb staatliche Regulierungen der Industrieunternehmen sowie eine Untersuchung der gesamten Bevölkerung, um die genauen Ursachen der Vergiftungen festzustellen.

Schüler leiden unter Schwindel und Erbrechen

Am 21. August 2018 erreichte die Luftverschmutzung in Quintero und Puchuncaví einen neuen Höhepunkt. Die 17-jährige Schülerin Tayra Pizarro erinnert sich noch genau. „Viele meiner Mitschüler hatten Kopfschmerzen, haben sich erbrochen und sind ohnmächtig geworden. Mir war übel und schwindelig, aber ich wusste nicht warum. Dann hat der Lehrer uns gesagt, dass eine Vergiftung durch Giftgase die Ursache war“, erzählt sie. Über 50 Schüler und Lehrer wurden an diesem Tag ins Krankenhaus eingeliefert. Anschließend wurde der Schulunterricht für über einen Monat ausgesetzt.

Einem Bericht des chilenischen Gesundheitsministeriums zufolge wurden zwischen dem 21. September und dem 18. Oktober diesen Jahres 1398 Personen aufgrund von Vergiftungen durch Gase in den lokalen Krankenhäusern behandelt.

Am stärksten betroffen sind Kinder und Jugendliche, deren Immunsystem schwächer ist als das der Erwachsenen. Es waren auch die Schüler, die in den folgenden Wochen in den Straßen protestierten und die Aufmerksamkeit der chilenischen Meiden auf sich zogen.

Nach der Vergiftgung durften Taya Pizarro und ihre Mitschülerinnen einen Monat nicht zur Schule gehen.

„Die Gesundheit der Kinder der Wirtschaft geopfert“

Obwohl die Luftverschmutzungswerte seit über 50 Jahren sehr hoch in der Region sind, war das Krankenhauspersonal nicht auf die Vergiftungen vorbeireitet. María Araya ist Präsidentin des Beirats des Krankenhauses Adriana Cousiño de Quintero und setzt sich für die Interessen der Patienten ein. „Das Krankenhaus hatte keine Spezialisten, nur Allgemeinmediziner. Das Gesundheitsministerium wusste das und hat sich taub gestellt. Sie haben solange gewartet, bis die Situation eskalierte und sie sie nicht mehr ignorieren konnten“, beschwert sie sich.

Die Regierung schickte ein Experten-Team nach Quintero und Puchuncaví, das über 120 verschiedene Gase in der Luft feststellte. Eines davon war Methylchloroform, das seit 2015 in Chile verboten ist. Der Kontakt mit Methylchloroform verursacht die gleichen Symptome, von denen die Bewohner in Quintero klagen: Schwindel, Kopfschmerzen, Erbrechen.

Viele Hinweise führen zum Chemiekonzern Oxyquim, der Methylchloroform lange unter seiner chemischem Bezeichnung Trichlorethanvermarktete. Das Unternehmen streitet aber jegliche Verantwortung für die Vergiftungen ab. „Wir kämpfen gegen die Wirtschaftsmacht des Landes. Der Staat reagiert nicht, weil sonst die gesamte Wirtschaft zusammenbrechen würde. Die Gesundheit unserer Kinder wird für die Wirtschaft des Landes aufgeopfert“, sagt Araya.

Verschmutzungswerte übersteigen internationale Standards

Birgit Gerstenberg, Vertreterin der Vereinten Nationen in Südamerika, besuchte die Region und äußerte sich besorgt über die Auswirkungen der Umweltverschmutzung auf die Bevölkerung. Sie wies darauf hin, dass der Staat „dazu verpflichtet ist, die Menschenrechte durch Gesetzgebung und Institutionen zu schützen.“

María Araya, Präsidentin des Beirats des örtlichen Krankenhauses, will auf jeden Fall weiterkämpfen: „Wir geben nicht auf“.“

Die Internationale Gesundheitsorganisation warnte in einer Erklärung vor der hohen Präsenz von Arsen in der Küstenregion, das durch das Wasser aufgenommen wird und Krebs verursacht. Die durchschnittliche Arsenkonzentration in Quintero und Puchuncaví ist einer Studie des chilenischen Gesundheitsministeriums zufolge 23 Mal höher, als es in der Europäischen Union erlaubt ist. In Chile gibt es überhaupt keine Regulierungen.

Am 15. November protestierten Menschen in ganz Chile gegen die Umweltverschmutzung in Quintero-Puchuncaví aus Solidarität mit der betroffenen Bevölkerung. Maria Araya hat nicht an den Protesten teilgenommen, weil sie Angst hat. Sie sei verfolgt worden und habe Drohanrufe erhalten. „Die Leute, die den Mund aufmachen, werden zum Schweigen gebracht“, sagt sie.

Am 4. Oktober kam der 27-jährige Fischer und Gewerkschaftsführer Alejandro Castro unter bisher ungeklärten Umständen ums Leben. „Es ist nicht einfach“, sagt Maria Araya, „aber wir müssen weiterkämpfen. Die Leute, die das Geld dafür haben, ziehen aus Quintero weg. Die einfachen Menschen bleiben hier und leiden. Sie wollen uns ruhigstellen. Aber wir geben nicht auf“.

 

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