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Politik - 18.03.2019

Türkei: Erdogans Angst vor der eigenen Bevölkerung

Erdogan geht gegen Protestierende vor: Prozess in der Türkei nach Gezi-Protesten

Die Gezi-Proteste hatten sich im Sommer 2013 an einem Bauprojekt im Istanbuler Gezi-Park entzündet und sich zu landesweiten Demonstrationen gegen die autoritäre Politik des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ausgeweitet. Jetzt geht Erdogan gegen Mitwirkende vor. (Quelle: Reuters)

Erdogan geht gegen Kritiker vor: Nach den Gezi-Protesten vor einigen Jahren beginnt nun ein umstrittener Prozess. (Quelle: t-online.de)


Seit 500 Tagen sitzt der türkische Intellektuelle Osman Kavala in Haft  dafür, dass er bei den Gezi-Protesten dabei war. Aber das ist bei weitem nicht der einzige Angriff auf die Zivilgesellschaft. Eine Bestandsaufnahme.

In der Mitte des Podiums steht eine ältere, rundliche Frau mit graublondem Haar, das in einem Knoten am Hinterkopf zusammengesteckt ist. Am Anfang spricht sie zu leise. „Lauter“, ruft jemand im Publikum. Mücella Yapici reckt das Kinn, ihre Stimme schallt nun durch den Raum. „Wir lehnen eure Versuche ab, Gezi zu beschmutzen“, ruft sie. Es ist ein kleines Echo großer Proteste und ein Versuch, gegen einen mächtigen Gegner anzukämpfen: den türkischen Staat. Dutzende Aktivisten der Zivilgesellschaft sind in dieser Woche in Istanbul zusammengekommen, um gegen den sogenannten Kavala-Prozess zu protestieren. Seit 500 Tagen sitzt zum Wochenende einer der ihren, der Philanthrop Osman Kavala, in Haft. Grund: Er war bei regierungskritischen Gezi-Protesten von 2013 dabei.

Im wohl prominentesten Menschenrechtsfall des Jahres, zu dem die Anklageschrift seit einigen Tagen vorliegt, sind zusammen mit Kavala 15 weitere Menschen angeklagt. Unter ihnen ist auch Frau Yapici, Generalsekretärin der Architektenkammer von Istanbul. Zentraler Vorwurf: Umsturzversuch. Die Angeklagten sollen zusammen mit „ausländischen Agenten“ die Proteste finanziert und gelenkt haben.

Empörung im Ausland

Die Gezi-Proteste hatten sich im Sommer 2013 an einem Bauprojekt im Istanbuler Gezi-Park entzündet und sich dann ausgeweitet zu landesweiten Demonstrationen gegen die autoritäre Politik des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Die Regierung ließ die Proteste brutal niederschlagen. Mit dem Prozess versucht sie nun, sie umzudeuten in einen Komplott.

Demonstranten tragen bei Gezi-Protesten eine Verletzte fort: Die Demonstrationen begannen mit dem Erhalt eines Parkes in Istanbul, aber sie breiteten sich schnell landesweit aus und Tausende forderten den Rücktritt von Erdogan. (Quelle: imago)

Im Ausland löst der Fall Empörung aus. Kritische Köpfe würden mit absurden Vorwürfen kriminalisiert, sagt zum Beispiel die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler. Osman Kavalas Organisation Anadolu Kültür arbeitet mit vielen deutschen Institutionen zusammen, vom Berliner Senat bis zum Goethe-Institut.

In der 657-seitigen Anklageschrift, die der dpa vorliegt, wird klar, wie scharf die Türkei ihre Zivilgesellschaft überwacht. Die Transkripte von abgehörten Telefonaten nehmen Hunderte Seiten ein. Besonders von Interesse schienen Kavalas Gespräche mit Ausländern zu sein, unter ihnen Repräsentanten der deutschen Stiftungen, die die türkische Zivilgesellschaft unterstützen. Oft wird nicht ersichtlich, was diese Unterhaltungen eigentlich beweisen sollen – als sei in den Augen des Staates allein der Kontakt zu Nicht-Türken eine Straftat. Es geht da um Einladungen zum Essen oder um Arbeitstreffen.

„Angst des Staates vor seinen eigenen Bürgerinnen und Bürgern“

Die Jagd auf Kavala ist aber nur ein Punkt auf der Klage-Liste von Menschenrechtsaktivisten. Der jüngste Aufreger war das Verbot des großen Frauentagsmarsches in Istanbul am 8. März. Mit Tränengas war die Polizei gegen die Demonstranten vorgegangen. „Die Panik, dass sich aus einer größeren Demonstration ein zweites Gezi entwickeln könnte, sitzt tief“, schrieb der Chef der Böll-Stiftung in Istanbul, Kristian Brakel, danach in einer Analyse. Brakel spricht auch von der „Angst des Staates vor seinen eigenen Bürgerinnen und Bürgern“.

#Erdogan hat in den letzten Jahren die #Türkei immer tiefer gespalten. Kommen diese Konflikte auch nach Deutschland? Teil 3 unseres Interviews mit @KristianBrakel von der Heinrich-Böll-Stiftung. @tonline_news pic.twitter.com/NvP6BQPelr

— Patrick Diekmann (@patdiekmann) June 24, 2018

Wieso der Staat die Gezi-Demonstranten von 2013 mehr als fünf Jahre später als Kriminelle verurteilen will, bleibt unscharf. Er fahre vor den Kommunalwahlen Ende März eine „Kampagne der Einschüchterung“, meinen in einer Stellungnahme drei Menschenrechtsorganisationen. Andere argumentieren, Erdogan wolle von den schweren wirtschaftlichen Problemen im Land ablenken. Asena Günal, eine Kollegin von Kavala bei Anadolu Kültür, wiederum sagt, der Präsident könnte nach Gezi eine neue soziale Bewegung gegen die Regierung fürchten. Die Gelbwesten-Proteste in Frankreich hätten einen Nerv berührt. Erdogan hatte sie tatsächlich in gleich mehreren Reden scharf verurteilt.

Im Mai 2013 zerschlug die Polizei die Gezi-Proteste in Istanbul gewaltsam. (Quelle: imago)

Dass die ständigen Breitseiten gegen Teile der Zivilgesellschaft und gegen grundlegende Freiheiten das westliche Ausland abstoßen – also Partner, die die Türkei in der schweren Konjunkturkrise aktiv umwirbt – scheint die Regierung nicht wahrzunehmen. Oder ist es ihr egal?

Ein Eigentor der besonderen Art war jüngst die Verweigerung der Arbeitserlaubnis für Korrespondenten von ZDF, „Tagesspiegel“ und NDR im März. Deutsche Diplomaten und Politiker, die das krisenhafte Verhältnis zur Türkei seit Mitte 2018 auf dem Weg zur „Normalisierung“ sahen, hat die Affäre um die Pressefreiheit enorm frustriert. In einem Fall hat die Regierung die Entscheidung mittlerweile rückgängig gemacht.

Keine Ende in Sicht

Mitglieder der regierenden AKP-Partei führen viele dieser „Sicherheitsmaßnahmen“ auf den Putschversuch von 2016 zurück und klagen, der Westen respektiere das „Trauma“ nicht, das er ausgelöst habe. Verantwortlich für den Putschversuch macht sie die Bewegung um den Prediger Fethullah Gülen. Jahrzehntelang soll diese die Regierung, Streitkräfte und andere Institutionen mit ihren Anhängern infiltriert haben. Die Bewegung war groß, mit Schulen und Wohlfahrtsinstituten, die vermutlich das Leben von Millionen Türken beeinflusst haben. Rund 500.000 Menschen mit Verbindungen zu Gülen seien seit 2016 festgenommen worden, hatte der Innenminister am vergangenen Wochenende gesagt. Rund 30.000 seien noch in Haft. Ein Ende ist nicht in Sicht.
 

 
Viele Menschen werden offenbar „nur“ verhört und wieder freigelassen. Die Türkei reaktiviert auch immer wieder eingefrorene Reisepässe von entlasteten Verdächtigen. Aber beim Versuch, zukünftige Risiken auszuschalten, mischt sie Terrorverdächtige mit Regierungskritikern, Verschwörer mit Sympathisanten, Gezi-Proteste mit dem Putschversuch. Ihr Netz ist weit. Die Abschreckung fruchtet. Asena Günal von Anadolu Kültür sagt, die Menschen seien „ängstlich und pessimistisch“. Für neue Proteste hätten sie wohl keine Energie mehr.

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