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Politik - 19.01.2019

Deutschland stoppt Entwicklungshilfe in Syrien

Bitterer Moment für die deutsche Entwicklungshilfe-Politik und Millionen Menschen in der syrischen Region Idlib:

Die Bundesregierung hat nach BILD-Recherchen ihre Struktur- und Entwicklungshilfen für die von syrischen Rebellengruppen und Islamisten kontrollierte Region Idlib im Nordwesten Syriens eingestellt. Davon betroffen sind unter anderem die Gehälter von Hunderten Ärzten und Krankenhelfern in 41 Krankenhäusern und Gesundheitszentren, die Unterstützung von Schulen mit Lehrmaterialien, die Bereitstellung von landwirtschaftlichen Geräten und Fahrzeugen, Verwaltungstrainings und vieles mehr.

Das Geld für die Hilfe kam aus den Budgets des Auswärtigen Amtes (AA) und des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Grund für den Stopp der Hilfszahlungen ist die Machtübernahme der Terrororganisation Hayat Tahrir al-Sham (HTS) in großen Teilen Idlibs Anfang Januar.

Bei Kämpfen und Anschlägen zwischen HTS und anderen Rebellengruppen waren nach Zählungen der „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ zwischen April 2018 und dem 10. Januar 2019 auf beiden Seiten 312 Kämpfer sowie 111 Zivilisten ums Leben gekommen. Daraufhin ergaben sich Mitte Januar zahlreiche Rebellengruppen oder zogen in Richtung Aleppo ab und überließen damit HTS die Macht über viele Städte und Dörfer in Idlib.

Aus dem Auswärtigen Amt hieß es zur Begründung der Aussetzung der Hilfszahlungen: „Nach verschiedenen Berichten müssen wir davon ausgehen, dass Hayat Tahrir al-Sham Anfang Januar 2019 faktisch die militärische Kontrolle über Projektstandorte in der Region übernommen hat. Diese Gruppe ist bei den Vereinten Nationen als eine der Al-Kaida nahestehende Terrororganisation gelistet. Daher wurden unsere Stabilisierungsmaßnahmen zur Unterstützung lokaler Verwaltungsstrukturen in der Region Anfang Januar zunächst sukzessiv für einzelne Ortschaften und am 10. Januar 2019 für die gesamte Region suspendiert.“

Auch das „Entwicklungshilfe-Ministerium“ BMZ bestätigt auf BILD-Nachfrage: „Die BMZ-Vorhaben sind suspendiert.“ Auch dafür sei der Grund die Machtübernahme der islamistischen Terrororganisation HTS.

Insgesamt seien von beiden Ministerien geplante Mittel-Einsätze für Idlib in Höhe von 15,1 Millionen Euro für 2019 vorübergehend und auf unbestimmte Zeit ausgesetzt worden.

Doch allein in den Jahren 2017 und 2018 investierte Deutschland mehr als 54 Millionen Euro Entwicklungshilfe in zivile Strukturen der Region Idlib. Knapp über zehn Millionen Euro davon in das auf drei Jahre ausgelegte und nun unterbrochene Hilfsprogramm „Unterstützung des Stabilisierungs- und Transitionsprozesses in Syrien“. Nun also die Kehrtwende, nachdem die Terrororganisation HTS dort über weite Landstriche die Kontrolle übernommen hat.

Entsetzen bei Helfern in Idlib

Im syrischen Idlib ist man über die Einstellung der deutschen Zahlungen entsetzt – vor allem das Gesundheitssystem steht nun vor dem endgültigen Kollaps.

BILD sprach mit Mustafa Eido (38), dem stellvertretendem Leiter des „Idlib Health Directorate“, der Gesundheitsbehörde der Region.

Eido erklärte BILD: „33 von uns betriebene medizinische Einrichtungen sind davon betroffen (dazu kommen mehrere Einrichtungen in der Provinz Hama, Anm. d.Red.). Das heißt, dass unsere 634 Mitarbeiter nicht mehr bezahlt werden!“ Laut Eido könne man seit dem 11. Januar „nicht mehr die Qualität der medizinischen Betreuung anbieten“, die es eigentlich brauche. „Wir haben alle Kollegen zur einem Freiwilligen-Dienst aufgerufen und wir werden auch Gebühren von den Patienten fordern müssen, um zumindest die Betriebskosten (Medikamente, Sauerstoff und Diesel) decken zu können.“

Das Unglaubliche: Hunderte Mitarbeiter kämen seit dem 11. Januar weiter zur Arbeit, obwohl sie dafür nicht mehr bezahlt werden könnten! Allein aufgrund ihres Verantwortungsbewusstseins gegenüber den Patienten.

Eido ist klar, dass die Übernahme der Islamisten für den Rückzug Deutschlands verantwortlich ist: „Der Hauptgrund der Einstellung der Zahlungen ist natürlich die politische Entwicklung der letzten Monate.“

Trotzdem fordert der Mediziner Deutschland auf, die Entscheidung rückgängig zu machen, der Menschen in Idlib wegen. Zu BILD sagte er: „Wir haben eine Beistandsaktion im In- und Ausland gestartet, um die Zahlungen wieder anzufahren.“ Die Patienten, so Eido, könnten nichts für die politischen Entwicklungen in der Region.

Zahlungs-Einstellung widerlegt russische Behauptungen

Der schmerzhafte aber konsequente Schritt der Bundesregierung widerlegt die Propaganda des russischen Senders „RT Deutsch“. Dieser hatte im November behauptet, Deutschland „pumpe“ Millionen von Euro in die „Dschihadisten-Hochburg Idlib“. Und weiter: „Auch völkerrechtlich wirft das Vorgehen der Bundesregierung zahlreiche, bisher unbeantwortete Fragen auf.“

Schon damals konterte ein Sprecher des Auswärtigen Amts: „Ihre Formulierung, wir würden Millionen irgendwo reinpumpen, geht völlig an der Realität vorbei. Wir fördern ganz spezifische Projekte ziviler Gruppen.“

Nun der Beleg für diese Aussage: Deutschland stellt die Strukturhilfe-Zahlungen in dem Moment ein, in dem tatsächlich nicht mehr ausgeschlossen werden kann, dass deutsches Steuergeld von islamistischen Extremisten missbraucht wird.

Aus dem Auswärtigen Amt heißt es zu einer möglichen Wiederaufnahme der Zahlungen, man prüfe derzeit, „inwieweit HTS Kontrolle über die zivile Verwaltung und den zivilen Raum erhalten hat“. Eine mögliche Aufhebung der Suspendierung der deutschen Zahlungen sei vom Ergebnis dieser Prüfung abhängig.

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Grünen-Außenexperte sieht Verantwortung bei der Türkei

Omid Nouripour, Obmann der Grünen im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestags, sieht nach dem Ende der deutschen Entwicklungshilfe vor allem die Türkei in der Pflicht.

Zu BILD sagte er: „Die Einstellung der Strukturhilfen für Idlib ist ein schwerer Schlag für Millionen Not leidende Menschen in der Region. Die Verantwortung dafür trägt vor allem die Türkei, die sich als Schutzmacht für Idlib begreift. Trotz zwölf türkischer Militärposten in Idlib, konnten die Extremisten von HTS dort ungestört die Kontrolle übernehmen. Der Ball liegt daher bei der Türkei. Herr Erdogan muss entweder dafür sorgen, dass HTS die Kontrolle wieder verliert und Deutschland seine Zahlungen wieder aufnehmen kann oder die bislang von Deutschland geleistete Hilfe selbst übernehmen.“

Immerhin: Nach BILD-Informationen ist die humanitäre Hilfe für mehr als drei Millionen Zivilisten in Idlib von der Einstellung der deutschen Zahlungen nicht betroffen. Um die Menschen – darunter mehr als 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge – in Idlib mit dem Nötigsten zu versorgen, wird Deutschland auch 2019 mindestens 22 Millionen Euro für Nahrungsmittel und andere lebensnotwendige Güter bereitstellen.

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