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Politik - 19.11.2018

Das droht, wenn die „Brextremisten“ siegen

Premierministerin warnt vor „Putsch“ ++ EU-Staaten beraten heute erstmalig über Pläne ++ Ohne Abkommen droht den Briten Chaos

„Ich glaube wirklich, dass dies der beste Deal für Großbritannien ist“, sagte die britische Premierministerin Theresa May (62, Tory) am Freitag in einem Radio-Interview. Am Sonntag nannte sie den Brexit-Deal in einem Gastbeitrag für die Zeitung „Sun on Sunday“ alternativlos: „Es gibt kein anderes Konzept, auf das wir uns mit der EU einigen können.“

Das Problem: Dutzende ihrer Parteifreunde, ihr Koalitionspartner, die nordirische Protestantenpartei DUP, und der größte Teil ihrer Landsleute müssen davon noch überzeugt werden.

„Einsame May taumelt weiter“, titelte die „Times“ zuletzt, als Kritik von buchstäblich allen Seiten, von Brexit-Gegnern, vor allem aber von Brexit-Hardlinern, auf sie und ihren mit Brüssel verhandelten „Deal“ für einen geordneten Brexit einprasselte.

Die EU-Mitgliedstaaten beraten am Sonntag erstmals über den Entwurf eines Austrittsabkommens mit Großbritannien. Dazu kommen in Brüssel die EU-Botschafter ohne den britischen Vertreter zusammen. Ihre Regierungen haben den in Großbritannien hoch umstrittenen Brexit-Vertrag in den vergangenen Tagen geprüft und können nun eine erste Bewertung abgeben.

Das Treffen dient damit der Vorbereitung des Sondergipfels der EU-Staats- und Regierungschefs am Sonntag in einer Woche, auf dem das Abkommen gebilligt werden soll.

„Die nächsten sieben Tage sind entscheidend“, sagte May bei einem Interview mit dem Sender Sky News am Sonntag. Ein Führungswechsel würde die Verhandlungen mit Brüssel nicht einfacher machen und auch die Mehrheitsverhältnisse im britischen Parlament nicht verändern.

  • Putschversuch der „Brextremisten“

    Misstrauensvotum gegen May wackelt wieder

    Theresa May kämpft unbeirrt für einen „weichen“ EU-Austritt. Ihre parteiinternen Gegner wollen sie nun per Vertrauenstrage stürzen.

Ob sie die Zeit für weitere Überzeugungsarbeit bekommt, hängt auch davon ab, ob das von parteiinternen Gegnern eingeforderte Misstrauensvotum tatsächlich zustande kommt. Dafür wären 48 Anträge erforderlich, eine Zahl, die frühestens am Montag erreicht wird. Öffentlich als May-Gegner bekannt haben sich bislang erst etwas mehr als 20 Tory-Abgeordnete.

Steve Baker, einer der treibenden Kräfte des Referendums, sagte nun aber, viele Verfechter eines harten Brexits wollten das Wochenende nutzen, ihre Entscheidung reifen zu lassen.

Stimmt eine Mehrheit der 315 Abgeordneten der Partei GEGEN May, wäre der Zeitplan für den Brexit, den für 29. März 2019 geplanten EU-Austritt, nicht mehr zu halten.

Das gilt zwar bislang als unwahrscheinlich (dem Lager der Brexit-Hardliner werden etwa 80 Abgeordnete zugerechnet). Es würde aber bedeuten, dass ein beinharter Lagerkampf in der konservativen Partei beginnen dürfte. Ein Kandidat für die Nachfolge, der die zerstrittenen Lager halbwegs einen könnte, ist nicht in Sicht.

Das fordern die Brexit-Hardliner

► Die „Brextremisten“ würden versuchen, einen der ihren als May-Nachfolger zu installieren, der dann mit großer Wahrscheinlichkeit Nachverhandlungen mit Brüssel – und einen „besseren“ Deal für Großbritannien fordern würde. Hauptforderung der Verfechter eines harten Bruchs mit Brüssel: Großbritannien müsse in jedem Fall selbst bestimmen können, wann es die Zollunion mit der Europäischen Union verlässt.

Hintergrund: Laut Einigungspapier würde das Vereinigte Königreich notfalls (falls bis 2021 kein Handelsabkommen zwischen London und Brüssel zustande kommt) zur Verhinderung einer neuen Grenze zwischen Irland und Nordirland in der Zollunion verbleiben. Ein einseitig beschlossener Ausstieg aus dieser Notfall-Klausel („Backstop“) nach einer bestimmten Frist ist nicht im Vertrag vorgesehen.

Sturheit der Brexit-Briten könnte sich rächen

Weil sich aber an der EU-Verhandlungsposition kaum etwas über Nacht ändern würde, wäre der Weg in die ungeregelte Scheidung („Chaos-Brexit“) deutlich wahrscheinlicher.

Und das, obwohl 60 Prozent der Briten laut einer YouGov-Umfrage lieber das vielkritisierte Abkommen akzeptieren als einen ungeordneten Brexit riskieren würden. Allerdings sind 56 Prozent der Meinung, man sollte besser in einem zweiten Referendum nochmals das Volk entscheiden lassen.

Unvermeidbar wäre nach Ansicht von Prof. Iain Begg (65), Brexit-Experte von der London School of Economics, bei einem ungeordneten EU-Austritt ein Zusammenbruch der Lieferkette über Calais (Frankreich) nach Dover, wo heute Zehntausend Lkw täglich Produkte ohne Zoll-Kontrolle ins Land bringen. Wie von Zauberhand füllen sie die Regale von Supermärkten und Apotheken, wenngleich die Preise auf Import-Produkte wegen des schwachen Pfunds bereits seit Monaten spürbar anziehen.

Die Pflicht zur Zoll-Abfertigung über Nacht würde alle Kapazitäten an Stellplätzen und Personal sprengen – ein totales Verkehrschaos droht. Und dadurch schwerste Liefer-Engpässe und Verteilungskämpfe.

30 Prozent der Lebensmittel in UK stammen aus der EU, vom französischen Camembert über die Gurken und Tomaten aus Holland bis zum italienischen Schinken und Büffel-Mozzarella. „Vieles davon hat eine kurze Haltbarkeit“, sagt Politökonom Begg. Londons Regierung hat inzwischen immerhin Notpläne für ein Verteilen durch das Militär in der Schublade.

Warnung vor Hamsterkäufen und Plünderungen

Clevere Privat-Unternehmer, die nicht mehr an einen Brexit-Deal glauben, haben bereits Lagerflächen gebucht – und auch die May-Regierung plant Depots. Doch weil die Kunden vor allem außerhalb der Metropolen nervös werden könnten, warnen Szenarien vor Hamsterkäufen, explodierenden Preisen und gar vor leeren Regalen und Plünderungen.

Aus „Cool Britannia“ (Olympia 2012) würde dann endgültig kein „Global Britain“, das May ihren Landsleuten für den Tag des Austritts versprochen hat, sondern ein nur noch im Chaos vereintes Königreich.

Die britische Polizei ist laut einem Zeitungsbericht auf „soziale Unruhen“ über einen Zeitraum zwischen drei Monaten vor und drei Monaten nach dem Brexit eingestellt.

Selbst das Viagra könnte knapp werden

Für das Gesundheitssystem schlagen Experten ebenfalls Alarm: 37 Millionen Packungen an Medikamenten aus der EU kommen monatlich auf die Insel, drunter Insulin für Diabetes-Patienten. Aber auch das Pfizer-Potenzmittel Viagra (wird in Frankreich produziert), das zum Beispiel die „Online-Praxis“ Zava für mögliche Lieferengpässe hortet. Eine Reserve von 1 Million Pillen (reicht für 4 Monate) soll bis Jahresende aufgebaut werden.

Hinzu kommt die schwindende Kaufkraft: Dem Pfund steht laut IWF-Chefin Christine Lagarde ohne Brexit-Deal mit Brüssel die nächste Abwertung bevor, die vor allem Benzin und Auslandsreisen teurer machen würde.

Und: Hausbesitzern drohen laut Zentralbankchef Mark Carney bis zu 35 Prozent Wertverlust.

Weitere Risiken wären:

► Völlig ungeklärte Situation an der EU-Außengrenze, die Irland (weiter in der EU) von Nordirland (ausgetreten) trennt. Pessimisten fürchten in diesem Fall das Wiederaufflammen des Nordirland-Konflikts (3000 Tote bis zum Jahr 1998).

► Viele Flugzeuge, die bislang Europas Metropolen und Feriengebiete mit Großbritannien verbinden, könnten am Boden bleiben.

► Konfliktpotential im Umfeld der bevorstehenden Europawahlen (Mai 2019)

► Das Ende des „Erasmus“-Austausch-Programms für britische Studenten und Universitäten.

► Ende des günstigen Telefonierens für EU-Touristen in Großbritannien – und umgekehrt.

Pro-europäische Torys setzen auf zweites Referendum

Aus der Deckung kämen bei einem erfolgreichen Misstrauensvotum gegen May aber auch die Brexit-Gegner unter den Konservativen, die bislang ihre Sympathie für ein zweites Referendum nur im kleinen Kreis äußern durften, weil Theresa May diese Möglichkeit kategorisch ausgeschlossen hatte.

Ein namentlich nicht genannter Minister, den die BBC zitierte, sprach von etlichen Mitstreitern, die dann für den „Exit vom Brexit“ trommeln würden. Sie könnten wegen der steigenden Angst in der Bevölkerung vor einem Chaos-Brexit und der immer lauteren Forderungen nach einem „letzten Wort“ bei der Jahrhundertentscheidung durchaus an Einfluss gewinnen.

Problem ist, dass sich die Labour-Partei von ihrer bisherigen Strategie, Mays Brexit-Deal zu blockieren, um Neuwahlen zu erzwingen, lösen müsste. Denn klar scheint, dass eine parlamentarische Mehrheit für ein zweites Referendum nur mit Stimmen aus dem Lager von Labour UND Torys möglich wäre.

In diesem Fall müsste die Europäische Union die „Pause-Taste drücken“, wie Experte Begg es ausdrückt, das heißt, die Austrittsfrist verlängern. Denn zur Vorbereitung und Umsetzung eines neuen Votums gelten fünf Monate als Mindestzeitraum.

Weitere Option: Neuwahlen

Bislang wollen die konservativen Torys Neuwahlen um jeden Preis verhindern. Sie finden normalerweise alle fünf Jahre statt, können aber unter besonderen Umständen auch früher angesetzt werden.

Verlässt die nordirische DUP die Koalition, könnte ein Misstrauensantrag von Labour für Neuwahlen sorgen. Alternativ können zwei Drittel der Abgeordneten zu jeder Zeit für Neuwahlen stimmen.

Völlig unklar ist, wie sich die großen politischen Blöcke dann zum Brexit positionieren würden.

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