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Deutschland - 22.05.2019

70 Jahre Grundgesetz: Der Weg von der „Idiotenfibel“ zur Demokratie

Konrad Adenauer: Der Präsident des Parlamentarischen Rates unterzeichnet das Grundgesetz. Am 23. Mai 1949 wurde es verkündet – die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. (Quelle: ullstein bild)

Vor 70 Jahren wurde mit der Verkündung des Grundgesetzes der Grundstein für die Gesellschaft gelegt, in der wir heute leben. Aus einer „Idiotenfibel“ ist eine bärenstarke Demokratie erwachsen.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“: So steht es im ersten Artikel des Grundgesetzes, der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Seit dem 23. Mai 1949 ist sie in Kraft. Der erste Entwurf entstand im Sommer 1948 auf der Herreninsel im Chiemsee.

Elf kluge Köpfe versammelten sich, um dem Land, das sich noch lange nicht von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und den Monstern der Diktatur erholt hatte, eine Struktur zu geben, aus der heraus es sich entwickeln und zu neuer – friedlicher – Stärke finden kann. Es waren elf stimmberechtigte Berater samt weiterer Experten, die im Auftrag der elf Ministerpräsidenten in West-Deutschland verhandelten.

Ihre Mission war klar: Sie sollten innerhalb von zwei Wochen einen Bauplan für einen neuen deutschen Staat entwerfen. Eine „Idiotenfibel“, wie der Versammlungsführer Anton Pfeiffer das entstehende Verfassungsmanuskript nannte. Denn mit der Anleitung von der Herreninsel sollte der im September 1948 zusammentretende Parlamentarische Rat in den folgenden Monaten eine rechtsgültige Verfassung niederschreiben.

Frauen machten sich stark für Frauen

Über die Zusammensetzung dieses Gremiums entschieden die Landesparlamente: Insgesamt wurden 61 Männer und vier Frauen bestimmt. Der Parlamentarische Rat funktionierte tatsächlich wie ein Parlament. Es gab Abgeordnete, Fraktionen, ein Präsidium und Ausschüsse, in denen über den Gesetzestext diskutiert wurde. 

Die Worte des stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Adolf Süsterhenn, umreißen die Verantwortung der Ratsmitglieder sehr genau: „Prüfet alles und behaltet das Beste.“ Für manche ging das Engagement sogar noch weit über die Arbeit mit der sprichwörtlichen „Idiotenfibel“ hinaus. So ist das unveräußerliche Verfassungsrecht auf die Gleichberechtigung der Frau beispielsweise der SPD-Abgeordneten Elisabeth Selbert und einer von ihr initiierten Kampagne zu verdanken. Die meist männlichen Abgeordneten im Hauptausschuss hatten ihren Vorschlag „Frauen und Männer sind gleichberechtigt“ noch abgelehnt. Sie mussten sich aber später dem öffentlichen Druck beugen, der über dem Parlamentarischen Rat niederging, nachdem Selbert sich an die Presse gewandt hatte. 

Die deutsche Verfassung ist Mahnung und Lehre

Während der Arbeit der Abgeordneten gab es insgesamt 36 Nachbesserungen dieser Art. Am 8. Mai 1949 – vier Jahre nach der Niederlage Nazi-Deutschlands – beschloss der Parlamentarische Rat schließlich das Grundgesetz. Am 23. Mai wurde es verkündet – das Ergebnis kann sich sehen lassen. 

Das Grundgesetz ist mehr als nur ein Gegenentwurf zur Weimarer Reichsverfassung, dem ersten Demokratieversuch der Deutschen. Diese wies – das konnten die damaligen Verfasser kaum vorhersehen – strukturelle Schwächen auf, die den Nationalsozialisten die Türen öffneten. Noch einmal, da war man sich auf der Herreninsel und im Parlamentarischen Rat einig, darf eine Verfassung nicht versagen. Das Grundgesetz ist Mahnung und Lehre zugleich.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, prangt deshalb über allem, was im Grundgesetz noch folgt. Unabänderlich ist dieser erste Artikel, auch das steht in der Verfassung. Genauso wie die Verfasstheit Deutschlands als demokratische Republik, föderal, sozial und als Rechtsstaat. An diesen in Artikel 20 niedergeschriebenen Grundsätzen kann nicht gerüttelt werden, darf nicht gerüttelt werden. Keine Lücken, die Feinde der Demokratie ausnutzen können – nicht noch einmal!

Die Verfassung schützt die Bürger und sich selbst

Die Verfasser schützen mit den Grundgesetzen den Bürger vor dem Staat, vor der Macht der Mächtigen, vor Willkür. Und sie schützen das Grundgesetz selbst. Artikel 1 und 20 stehen fest wie das Amen in der Kirche, für die gilt die sogenannte „Ewigkeitsklausel“. Alle anderen Artikel sind nur mittels Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat zu ändern. So ist das Grundgesetz flexibel für gesellschaftliche Entwicklungen und doch wehrhaft gegen Angriffe.

Eine der größten Stärken: Mit seinem Artikel 5 erlaubt es jedem, seine Meinung frei zu äußern. Das ist nicht selbstverständlich. Dass wir es aber genau dafür halten, zeigt, welche Kraft das Grundgesetz hat.

Das ist noch einmal um so bemerkenswerter, wenn wir uns an die Situation vor 70 Jahren erinnern. Damals gab es keine gesellschaftliche Revolution, keine Proteste, kein allgemeines Verlangen nach einer demokratischen Verfassung. Das Land lag zu großen Teilen noch in Trümmern. Viele Väter, Söhne, Brüder waren aus dem Zweiten Weltkrieg nicht nach Hause gekommen, Nahrung war knapp. Die Menschen hatten eigentlich andere Sorgen, als sich um eine Verfassung zu kümmern.

Und in genau dieser Zeit hatten einige wenige die Weitsicht, die innovative Kraft, in die Zukunft zu denken. Erst war das Grundgesetz, dann erwachte die Demokratie nach und nach zum Leben. An ihm ist die Gesellschaft gewachsen, hat gelernt. Einige wenige haben uns mit ihrem Glauben an eine bessere Zukunft das Leben ermöglicht, das wir heute führen. Ein Leben in Freiheit und Frieden. Genau darin liegt die Feierlichkeit des Grundgesetzes. Genau das ist seine Stärke.

Dieser Beitrag ist Teil unserer Serie zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes: t-online.de blickt auf das erste Jahrzehnt der Bundesrepublik zurück. Im Multimedia-Spezial und auf unserer Homepage t-online.de finden Sie zahlreiche Beiträge zu dieser Zeit.

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